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Titel
The Economy of Ethnic Cleansing. The Transformation of the German-Czech Borderlands after World War II


Autor(en)
Gerlach, David W.
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 395 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matej Spurný, Ústav pro soudobé dějiny AV ČR, v.v.i.

David Gerlach gehört zur jüngeren Generation amerikanischer Historiker/innen, die sich seit Jahren der Nachkriegszeit in der Tschechoslowakei widmen. So wie vor ihm Benjamin Frommer, Bradley Adams oder Eagle Glassheim kombiniert Gerlach dabei eine hervorragende Kenntnis der Quellenlandschaft, sprachliche Kompetenz und sachkundige Einsicht in die sozialen und politischen Kontexte der modernen tschechoslowakischen Geschichte mit einem gewissen analytischen Abstand, der es ihm ermöglicht, neue Akzente in der Fachdiskussion zu setzen.

In den historiographischen und geschichtspolitischen Debatten in Tschechien spielen zwei Themen seit 1989 eine Schlüsselrolle: die Zwangsaussiedlung der Deutschen nach dem Krieg und die kommunistische Diktatur. Gerlachs Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum tieferen Verständnis gleich beider Probleme, denn die von ihm beschriebene „Ökonomisierung der ethnischen Säuberung“ betrifft nicht nur die Vertreibungen selbst, sondern auch den Weg der kommunistischen Partei zu ihrem Machtmonopol nach 1948. Die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und ihre Folgen, die bis heute das symbolische Zentrum der tschechischen Geschichtspolitik bilden, haben in der tschechischen und internationalen Geschichtswissenschaft der letzten zwanzig Jahre überproportionale Aufmerksamkeit erhalten.1 Fragen des Eigentums, der Eigentumsrechte und allgemeiner des ökonomischen Kontexts von Zwangsaussiedlung und Ansiedlung in den Grenzgebieten wurden zwar gesellschaftlich breit diskutiert, historiographisch standen sie jedoch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.2 Daher ist Gerlachs Buch die erste Arbeit, die eine Synthese dieses Schlüsselaspekts bietet.

Die beiden ersten Kapitel „In the Wake of War“ und „Divisions Within the Nation“, die insgesamt ungefähr ein Drittel des Buches umfassen, basieren zum großen Teil auf Publikationen, die in den letzten drei Jahrzehnten erschienen sind.3 Gerlach widmet sich darin unter anderem den Vertreibungen, den Umsiedlungen sowie Konflikten unter den Siedlern. Seine Beschreibungen illustriert er anhand bisher kaum genutzter Quellen mit konkreten Geschichten, was seiner Schilderung eine starke Plastizität verleiht.

Den Kern des Buches bildet das dritte Kapitel „Persian Rugs and Well-Appointed Farms“ über die Politik des Eigentumsentzugs. Gerlach reduziert die gesellschaftliche Funktion des ehemals deutschen Eigentums darin nicht auf Plündern, Geldgier oder Korruption, sondern zeigt das Interesse des Staates an einer geregelten Konfiskation und Redistribution auf. Dass dies jedoch oft nicht der Fall war, sei durch eine Vielzahl von Gründen zu erklären – von Inkompetenz der Mitglieder der lokalen Verwaltungskommissionen bis hin zu vielen Interessenkonflikten zwischen Akteuren, die sich teilweise auf geltendes Recht oder offiziell anerkannte Privilegien stützen konnten. Die rechtliche Lage selbst bleibt dabei leider relativ unterbeleuchtet, obwohl sich der Autor gerade hier auf eine Reihe von bestehenden Studien und kommentierten Quellensammlungen hätte stützen können.

Die Stärke des Kapitels liegt in den Beschreibungen verschiedener Alltagsstrategien, etwa der Aktivitäten der „Goldgräber“. Schade ist allerdings, dass eine allgemeinere Diskussion des Plünderns nach dem zweiten Weltkrieg fehlt.4 Auch die politische Instrumentalisierung der Eigentumsumverteilung wird nur relativ knapp geschildert. Gerlachs Narrativ unterscheidet sich dabei kaum von der in anderen Studien: Er betont die Fähigkeit der Kommunistischen Partei, in allen Phasen von der Umverteilung zu profitieren. Es überrascht jedoch auch hier, dass Gerlach nicht auf die bisherige wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema eingeht, sondern seine Thesen allein aus den zitierten Primärquellen entwickelt. Unabhängig davon wäre eine Betrachtung auch der anderen – bislang kaum untersuchten – Parteien und ihrer Strategien bezüglich Konfiskation und Umverteilung interessant gewesen.

Die Werterhaltung größeren industriellen oder landwirtschaftlichen Eigentums und die Kontinuität der Produktion hing im Grenzland in den Jahren 1945/46 unmittelbar mit der Arbeitspolitik zusammen, der sich Gerlach im vierten Kapitel widmet. Allerdings braucht ein/e weniger informierte/r Leser/in etwas Zeit um zu verstehen, warum die Frage der Arbeitskräfte einen wichtigen Aspekt des Themas bildet, da der Autor hier kaum Verbindungen zu den vorherigen Teilen des Buches herstellt. Die Suche nach Eigentum und sozialer Mobilität hatte Hunderttausende in die Grenzgebiete geführt. Dennoch fehlten in vielen Regionen, vor allem in der Industrie und Landwirtschaft, Arbeitskräfte. Gerlach führt dies unter anderem auf das vorrangige Interesse der Siedler an Posten in der Nationalverwaltung und anderen Beamten-Positionen zurück. Zugleich zeigt er, dass selbst in Städten mit Wohnungsmangel, wo die Zahl der Einwohner nach der Zwangsaussiedlung bald den Vorkriegsstand erreichte oder sogar überschritt (Děčín-Podmokly, Liberec), ein dramatischer Mangel an Arbeitskräften in allen Bereichen herrschte. Ein besonderes Beispiel für Eingriffe in die Gesellschaftsstruktur stellt die Umsiedlung deutscher Arbeitskräfte ins Innere des Landes dar. Obwohl dieser Prozess in der tschechischen Fachliteratur bereits detailliert beschrieben und umfassend diskutiert worden ist5, rekonstruiert Gerlach dessen Verlauf und Charakter auch hier ausschließlich auf Basis von Archivquellen und widmet der bisherigen Diskussion keine Aufmerksamkeit.

Im Unterschied zu den vorherigen Teilen des Buches beginnt das fünfte Kapitel über die Konsolidierung der Grenzlandindustrie mit einem Exkurs in die Vorkriegs- und Kriegsgeschichte. Das ist notwendig, um die Spezifika der Industrie- und Eigentumsstrukturen in den tschechischen Grenzgebieten in den dreißiger und vierziger Jahren und so die Problematik ihrer Nationalisierung zu erklären. Dabei geht Gerlach auch auf Unterschiede und Ähnlichkeiten zur Lage in den polnischen Westgebieten ein. Neben den Präsidialdekreten und der Gesetzgebung der Jahre 1945 bis 1947, die durch Konfiskationen, Verteilung und die erste Phase der Nationalisierung des industriellen Eigentums bestimmt waren, behandelt der Autor hier auch die begrenzten, jedoch emblematischen, Restitutionen des Eigentums in die Hände der überlebenden jüdischen Besitzer.

Das sechste Kapitel „Borderlands transformed“ führt uns in das Grenzland der ersten Jahre der kommunistischen Diktatur. Hier stützt sich der Autor (neben Materialen der staatlichen und der regionalen Planungskommissionen) vor allem auf neuere tschechische Fachliteratur. Abgesehen von einigen interessanten Einzelheiten geht Gerlachs Synthese dabei allerdings kaum über die Befunde der existierenden Literatur hinaus. Auch Gerlach zeigt, wie die kommunistische Herrschaft die ursprünglichen Hoffnungen vieler Siedler/innen enttäuschte und so eine erneute Migration aus den Grenzgebieten verursachte. Dies habe zur weiteren sozialen Zersetzung der entwurzelten Gesellschaft beigetragen.

Im abschließenden Kapitel fasst Gerlach nicht nur die wichtigsten Ergebnisse zusammen, er gibt auch einen Ausblick auf die Folgen der Zwangsaussiedlungen und Eigentumsumverteilungen. Indem er die andauernde strukturelle Benachteiligung der tschechischen Grenzgebiete und die problematische Politik gegenüber der dortigen Roma-Bevölkerung diskutiert, deutet er an, dass es sich keineswegs um ein ausschließlich historisches Thema handelt.

David Gerlachs Buch entstand über viele Jahre. Das schlägt sich in der sehr umfangreichen und breiten Quellenbasis der Arbeit nieder, mit deren Hilfe er komplexe ökonomische Zusammenhänge der Nachkriegszeit im tschechischen Grenzland rekonstruieren kann. Allerdings hat dieser lange Entstehungsprozess offenbar zu einer Vernachlässigung neuerer Literatur in einigen (möglicherweise schon vor Jahren verschriftlichten) Kapiteln beigetragen. Auf diese Weise können gerade die empirisch fundiertesten Kapitel (3 und 4) nicht in einen Dialog mit der bereits bestehenden Fachliteratur treten, so dass das Buch einen Teil seines Potentials verschenkt. Nichtsdestotrotz stellt Gerlachs Buch einen lesenswerten Beitrag über die ökonomischen Zusammenhänge zwischen Eigentumskonfiskation und Neubesiedlung der tschechischen Grenzgebiete in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg dar.

Anmerkungen:
1 Genannt seien insbesondere: Tomáš Staněk, Odsun Němců z Československa 1945–1947, Prag 1991; ders.: Poválečné "excesy" v českých zemích v roce 1945 a jejich vyšetřování, Prag 2005 sowie Adrian von Arburg, Tomáš Staněk, Vysídlení Němců a proměny českého pohraničí (Quellenedition), Teil 1 und 2, Středokluky 2009–2011.
2 Zur Interaktion zwischen Recht und sozialer Praxis siehe etwa Matěj Spurný, Dieter Gosewinkel. Citoyenneté et expropriation en Tchécoslovaquie au lendemain des deux Guerres mondiales, in: Revue d´histoire moderne et contemporaine 61 (2014), 1, S. 26–61.
3 Z.B. die oben genannten Arbeiten von Tomáš Staněk und Adrian von Arburg sowie u.a.: Tomáš Staněk, Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945–1948, München 2007 (tsch. Original 1996); Andreas Wiedemann, „Komm mit uns das Grenzland aufbauen!“ Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945–1952, Essen 2007; Matěj Spurný, Der lange Schatten der Vertreibung, Ethnizität und Aufbau des Sozialismus in tschechischen Grenzgebieten (1945–1960), Wiesbaden 2019 (tsch. Original 2011).
4 Z.B. Kornelia Konczal, The Quest for German Property in East Central Europe after 1945. The Semantics of Plunder and the Sense of Reconstruction, in: Yvonne Kleinmann u.a. (Hrsg.): Imaginations and Configurations of Polish Society. From the Middle Ages through the Twentieth Century, Göttingen 2017, S. 291–312.
5 Siehe z.B. Tomáš Dvořák, Vnitřní odsun 1947–1953, Brno 2012.

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